Herr Prof. Berthele, haben MS-Patient*innen ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung?
Prof. Dr. Achim Berthele: Das ist eine ganz schwere Frage. Grundsätzlich werden Patient*innen mit Autoimmunerkrankungen per se zur Risikogruppe gezählt. Nach allen Erfahrungen, die wir und andere internationale MS-Experten bisher haben, ist ein besonderes Risiko aber nicht zu beweisen. Relevant ist sicher auch, wie fortgeschritten die MS-Erkrankung ist. Schwere MS-Verläufe sind zum Glück durch Fortschritte in der Therapie deutlich seltener geworden. Aber MS-Patient*innen, die z.B. im Rollstuhl sitzen oder bettlägerig sind, haben wohl allein aufgrund ihrer Immobilität ein höheres Risiko, einen schwereren Verlauf zu erleiden. Hier gilt das gleiche wie bei anderen Patient*innen mit Vorerkrankungen.
Man hört, dass MS-Medikamente das Infektionsrisiko erhöhen können, weil sie die Abwehr gegen Virusinfektionen herabsetzen können. Stimmt das?
Prof. Dr. Achim Berthele: Darüber besteht eine große und noch ergebnisoffene Diskussion. Einen epidemiologisch klar zu beweisenden Zusammenhang gibt es bisher nicht. Aus diesem Grund haben wir in unserem MS-Zentrum seit Beginn der Corona-Pandemie immer zur unbedingten Fortsetzung der Therapien geraten. Ein Aussetzen der Therapie bedeutet ja auch, dass die MS wieder aktiv werden kann. Dieses Risiko schätzen wir als höher ein. Es gibt jedoch einige wenige Medikamente, die in Zyklen verabreicht werden und dabei für einige Zeit das Immunsystem stark beeinflussen. Bei diesen Arzneimitteln haben wir dazu geraten, die Therapie um einige Wochen aufzuschieben oder auf ein anderes Medikament zu wechseln. Das betraf aber nur wenige Patient*innen und die Entscheidung haben wir mit jedem Patienten individuell abgestimmt. Stand heute ist uns auch kein schwerer Covid-19-Verlauf unter unseren MS-Patient*innen bekannt.
Es gab also keine Therapieunterbrechung während der Corona-Pandemie?
Prof. Dr. Achim Berthele: Wir haben in vollem Umfang weiter therapiert – auch Dank des großen Einsatzes des Teams der MS-Ambulanz! Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abläufe sind zu Corona-Zeiten natürlich viel schwieriger und umständlicher als sonst. Viele ambulante Termine haben wir telefonisch realisiert, statt im direkten persönlichen Kontakt. Wir freuen uns schon darauf, wenn alle unsere Patient*innen wieder persönlich in unsere Ambulanzen kommen können. Wir sind da sehr zuversichtlich, dass wir unter Einhaltung der für alle wichtigen Hygieneregelungen bald wieder in eine neue Normalität finden werden, die zumindest fast an die alte heranreicht.
Wie viele Patient*innen betreuen Sie denn in Ihrer Spezialambulanz?
Prof. Dr. Achim Berthele: Wir betreuen derzeit etwa 2.000 Patient*innen und haben im Jahr etwa 5.000 Patientenkontakte unterschiedlicher Art: Erst-, Verlaufs- und Kontrolluntersuchungen, Vorstellung zu Laborkontrollen und klinischen Testungen, Termine zur Magnetresonanztomographie (MRT), Medikamenteneinstellung oder für Infusionstherapien. Zusätzlich zu unserer Ambulanz im Neuro-Kopf-Zentrum haben wir noch ein Infusionszentrum im Sparkassenhaus am Max-Weber-Platz.